Komm, erzähl mir eine Geschichte!

Japan – ein Land im fernen Osten – so weit entfernt und doch so nah. Die Kamishibai-Erzählkunst hat ihre Ursprünge in Japan; wir kunstkönner haben in den vergangenen zwei Jahren auf Basis der tief verwurzelten Traditionen dieser besonderen Kunst viele Seminare und Workshops organisieren können und dürfen, in enger Zusammenarbeit mit dem Forum Kamishibai e.V. und dem Kölner himmelbau-Verlag. Um den Wert und die Kraft des original japanischen Kamishibai zu erahnen, lohnt es sich, sich zwei Worte und ihre Bedeutung einzuprägen: „Ma“ und „Kyokan“. Diese beiden Begriffe sind für Kamishibai von unschätzbarem Wert und prägen die einzigartige Magie dieser traditionellen Erzählkunst.

„Ma“ – Der Raum zwischen den Bildtafeln

Ohne „Ma“ würde das Kamishibai seine besondere Faszination und Ausdruckskraft verlieren. „Ma“ ist der Raum, die Stille und die Pause zwischen den Bildtafeln, die bewusst in die Erzählung eingebaut werden. Es ist nicht nur die Leere zwischen den Bildern, sondern vielmehr eine künstlerische Gestaltung, die die Vorstellungskraft des Publikums aktiv einbezieht.

Während der Kamishibaiya (derjenige oder diejenige, der/die die Geschichte erzählt) die Bildtafeln wechselt, entsteht durch das „Ma“ eine einzigartige Dynamik. Die Zuschauer haben Zeit, das gerade gezeigte Bild zu betrachten, die vorherige Szene zu reflektieren und sich auf das Kommende vorzubereiten. Diese Momente der Stille ermöglichen es den Zuschauern, die Geschichte aktiv mitzugestalten, eigene Gedanken und Emotionen einzubringen und eine tiefere Verbindung zur Handlung herzustellen. Das „Ma“ eröffnet Raum für die Vorstellungskraft und ermöglicht es, zwischen den Bildern eine ganz eigene Geschichte zu spinnen. Es ist die Poesie des leeren Raums, die das Kamishibai so einzigartig macht und die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmen lässt.

„Kyokan“ – Die emotionale Resonanz

Das „Kyokan“ ist ein weiterer entscheidender Aspekt des original japanischen Kamishibai. Es beschreibt die Fähigkeit des Kamishibaiya, die Emotionen und Reaktionen des Publikums wahrzunehmen und darauf einzugehen. Der Kamishibaiya ist nicht nur ein Erzähler, sondern auch ein Geschichtenerzähler, der die Stimmung des Publikums sensibel wahrnimmt und die Erzählung entsprechend lenkt.

Die Kunst des „Kyokan“ erfordert Erfahrung, Einfühlungsvermögen und eine tiefe Verbindung zum Publikum. Der Kamishibaiya kann durch seine Stimme, Gestik und Mimik die Spannung erhöhen, lustige Momente betonen oder traurige Szenen einfühlsam darstellen. Das „Kyokan“ schafft eine Interaktion zwischen Erzähler und Zuhörern, die die Geschichte lebendig werden lässt. Es ist ein Dialog der Emotionen, bei dem das Publikum aktiv in die Handlung einbezogen wird und eine persönliche Verbindung zu den Charakteren und Ereignissen herstellt.

Kamishibai heißt auch: Die Geschichte ist zu Ende, aber das Thema geht weiter!

Ma und Kyokan gehen Hand in Hand

Das Zusammenspiel von „Ma“ und „Kyokan“ ist der Schlüssel zur emotionalen Kraft des original japanischen Kamishibai. Das „Ma“ öffnet den Raum für die Vorstellungskraft, während das „Kyokan“ die emotionale Resonanz verstärkt und die Geschichte lebendig werden lässt. Es entsteht eine harmonische Symbiose zwischen dem leeren Raum und der emotionalen Tiefe, die die Zuschauer in die Erzählung hineinzieht und sie in ihren Bann schlägt.

Das original japanische Kamishibai ist nicht nur eine einfache Bildergeschichte, sondern eine Kunstform, die die Essenz der menschlichen Emotionen einfängt und die Zuschauer auf eine besondere Reise mitnimmt. Es ist eine Zeitreise zu den Wurzeln des Kamishibai in Japan, wo die Kunst des Geschichtenerzählens auf Papier entstanden ist und über Generationen hinweg weitergegeben wurde. Die Bedeutung von „Ma“ und „Kyokan“ in dieser Erzählkunst verdeutlicht, dass das Kamishibai weit mehr ist als nur ein visuelles Spektakel – es ist ein tiefgründiges und berührendes Erlebnis, das die Sinne und die Seele gleichermaßen anspricht.

In der Ruhe liegt die Kraft

In der heutigen schnelllebigen Welt erinnert uns das original japanische Kamishibai daran, wie wichtig es ist, Pausen zu setzen und Raum für die Vorstellungskraft zu lassen. Es zeigt uns die Kraft der Emotionen und wie sie eine Geschichte zum Leben erwecken können. Das Kamishibai ist eine zeitlose Kunst, die uns daran erinnert, dass die Magie des Geschichtenerzählens in der Einfachheit und Tiefe liegt und dass das Herz und die Seele der Zuschauer die wertvollsten Elemente sind, um eine Geschichte lebendig werden zu lassen.

Für mich bedeutet Kamishibai Faszinosum, Magie und Ruhepol. Ich bin dankbar für die vielfältigen Möglichkeiten, die das einzigartige Medium einer empathischen und individuell zugeschnittenen Sprach-, Erzähl- und Leseförderung eröffnet.
(Daniela Demmer, Kamishibai-Projekte)